Dem Kuchen fehlt symbolisch ein Viertel, so wie der Schweizer Demokratie, die wieder eine Vierviertel-Demokratie werden soll.

Im Jahr 2023 feiert die schweizerische Bundesverfassung ihren 175. Geburtstag.1848 ist die Geburtsstunde der modernen Schweiz, wobei damals nur knapp die halbe Schweiz, nämlich die Männer mitbestimmen konnten und zu Beginn waren auch Armengenössige und Juden von den politischen Rechten ausgeschlossen. Denn die Bundesverfassung von 1848 gewährleistete niedergelassenen Schweizer Bürgern anderer Kantone die Ausübung des Stimm- und Wahlrechts in kantonalen Angelegenheiten. Auf Bundesebene blieb das Stimm- und Wahlrecht abhängig vom kantonalen Aktivbürgerrecht, welches je nach Kanton unterschiedliche Personengruppen ausschloss, so psychisch Kranke, Personen nach Pfändung oder Konkurs, bei «Sittenlosigkeit», Bettelei und strafrechtlich Verurteilte. Kantonale Zensusbestimmungen schlossen auch Dienstboten oder Analphabeten aus. So waren damals bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen gegen 20% der erwachsenen männlichen Bürger ausgeschlossen.[1]  

Von einer Dreiviertel-Demokratie zu einer Vierviertel-Demokratie

Heute ausgeschlossen von der Politik ist die Bevölkerung ohne Schweizer Pass: zwei Millionen Menschen, was rund einem Viertel entspricht. Nach wie vor ist es in der Schweiz europaweit mit am schwersten, eingebürgert zu werden. Es ist für eine Gesellschaft und die Demokratie unbefriedigend, wenn so viele Menschen von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Die Schweiz braucht einen neuen, mutigen Gesellschaftsentwurf. Die Aktion VIERVIERTEL, ein breites Bündnis verschiedener zivilgesellschaftlicher Kräfte, will hier Gegensteuer geben und lanciert eine eidgenössische Volksinitiative für eine moderne Schweiz.

Initiative für ein modernes Bürger:innenrecht

Letztmals forderte die 1974 lancierte Mitenand-Initiative[2], also vor bald 50 Jahren, auf dem Weg einer Volksinitiative eine andere, offenere Migrationspolitik.[3] Seither waren Offensivprojekte selten und Fortschritte mussten schrittweise hart erkämpft werden, so die Abschaffung des Saisonierstatuts 2002 oder die erleichterte Einbürgerung für die dritte Generation. Mit der geplanten Initiative für ein modernes Bürger:innenrecht soll ein Recht auf Einbürgerung beim vorliegen abschliessender Kriterien verankert und dafür die Verfassung wie folgt geändert werden:

Art. 38 BV Erwerb und Verlust der Bürgerrechte

  1. Anspruch auf Erteilung des Bürgerrechts auf Gesuch hin haben Ausländerinnen und Ausländer, die:
    • sich seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten; 
    • nicht zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind; 
    • die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden; und 
    • Grundkenntnisse einer Landessprache haben. 

Politische Partizipation zählt zu den Grundpfeilern der Demokratie, insbesondere in der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie: Wer dauerhaft in der Schweiz lebt, soll mitbestimmen können. In der Schweiz wird heute dieses Recht einem Viertel der Bevölkerung verwehrt, obschon diese Menschen täglich zum wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben beitragen. Ein vereinfachter und rascher Zugang zur Staatsbürgerschaft ermöglicht Teilhabe für alle und schafft so die Voraussetzung für eine lebendige und moderne Demokratie. Nachdem die Schweiz im Jahr 2021 anlässlich 50 Jahre Einführung des Frauenstimmrechts über den Ausschluss der Frauen und den Mechanismen dahinter diskutiert hat, sind 175 Jahre moderner Bundesstaat ein guter Moment über heutige Ausschlussmechanismen zu diskutieren und für die Zukunft zu ändern. Die Initiative soll im Frühling 2023 lanciert werden.

Weitere Informationen: https://aktionvierviertel.ch/

[1] 1867 wurden die Juden gleichberechtigte Schweizer Bürger. Aufgrund einer fehlenden bundesrechtlichen Regelung wurden die Zugewanderten und vermögenslosen Bevölkerungsschichten von den politischen Rechten ferngehalten. 1915 erklärte das Bundesgericht den Steuerzensus als verfassungswidrig, schützte dagegen den Ausschluss infolge Armengenössigkeit. Nach der Wirtschaftskrise des Ersten Weltkriegs wurde der Ausschluss infolge Zahlungsunfähigkeit auf den verschuldeten Vermögenszerfall beschränkt. Seit 1971 dürfen weder der strafrechtlich Verurteilte noch der zahlungsunfähige Personen vom aktiven Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen werden. 
Quelle: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026453/2022-12-02/

[2] EIN CIVIL RIGHTS MOVEMENT IN DER SCHWEIZ? DAS VERGESSENE ERBE DER MITENAND-BEWEGUNG (1974–1990), Blog von Kijan Espahangizi, 13. Oktober 2018
https://institutneueschweiz.ch/De/Blog/178/Espahangizi_Mitenand

[3] Die Mitenand-Initiative für eine neue Ausländerpolitik, 1974 lanciert, hatte eine offenere Schweizer Ausländerpolitik zum Ziel und stand  in klarem Gegensatz zu den Schwarzenbach-Initiativen zur selben Zeit, welche eine zehnjährige Plafonierung des Ausländeranteils vorsah. Bei der Volksabstimmung am 4. April 1981 erhielt die Initiative gerade 16,2 % oder 252.531 Ja-Stimmen und keine einzige Standesstimme. Der Gegenvorschlag des Parlaments für ein Ausländergesetz AuG wurde am 6. Juni 1982 mit 49,6 % Ja-Stimmen ganz knapp verworfen.
Balthasar Glättli: Personenfreizügigkeit, Grundrechte, Gleichbehandlung. „Seit der Mitenand-Initiative – erfolglos – in der Defensive“. In: Widerspruch. Solidarité sans frontières, S. 2,