Anlässlich des am 24. November 2023 stattfindenden Holodomor Memoriam Concert (Holodomor Memorial Day Saturday, November 25, 2023) im Yehudi Menuhin Forum, Bern

Erinnern – gedenken – mahnen. Es geht um die Anerkennung des historischen Völkermordes durch Hunger an der Zivilbevölkerung der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik, der heutigen Ukraine 1932/33, also vor 90 Jahren, welche insbesondere die Landbevölkerung und damit viele Bauernfamilien traf. Diese organisierte Tötung durch Hunger wird Holodomor genannt.

In den Jahren 1932/33 ereignete sich in der Sowjetunion eine der grössten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts ausserhalb der Weltkriege. Gemäss Schätzungen wurden mehrere Millionen Menschen Opfer einer Hungersnot. Es ist die Rede von 4-6 Millionen Menschen, die verhungerten und dies hauptsächlich in der Kornkammer Ukraine. Neben der Ukraine waren aber auch Menschen in den Sowjetrepubliken Kasachstan, der Nordkaukasus, Gebiete an der Wolga und in Westsibirien vom Hungertod betroffen. Bis heute streitet das russische Regime jegliche Verantwortung ab.

Der Holodomor begann mit zwei Missernten in den Jahren 1931 und 1932. Trotz des Hungers der Landbevölkerung erhöhten die Parteikader des Sowjetregimes unter Stalin die Abgabenquote der Bauernbetriebe und requirierten Tonnen Getreide in der Ukraine, welches grössenteils zur Devisenbeschaffung auf dem Weltmarkt verkauft wurde womit die Industrialisierung in Russland vorangetrieben wurde. Nach der Historikerin Anne Applebaum („Stalins Krieg gegen die Ukraine“, 2019) entschied Josef Stalin im Herbst 1932, die Hungerkrise gezielt gegen die Ukraine zu nutzen.

Im Jahr 1953 verfasste der polnische Menschenrechtler Raphael Lemkin, der nach dem Zweiten Weltkrieg die UNO-Konvention gegen den Völkermord erarbeitet und den Begriff Genozid definiert hatte, einen Artikel über den Holodomor. Er nennt darin die ukrainische Hungersnot „das klassische Beispiel eines sowjetischen Genozids“. Demnach nutzte Josef Stalin den Hunger gezielt, um den Widerstand der ukrainischen Bauern und Bäuerinnen zu brechen. Mit diesem politischen Verbrechens des Holodomors wurde das Streben der sowjetischen Führung nach Kontrolle und Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauern in der Peripherien des sowjetischen Herrschaftsprojektes sowie die Unterdrückung der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur verschmolzen. Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen. Wie auch der Bundesrat in einer Antwort auf einen Vorstoss im Nationalrat anerkennt[1], ist in der Forschung heute weitgehend unbestritten, dass das stalinistische Regime gezielt die ukrainische Bevölkerung auszuhungern und zu dezimieren suchte.

Für die Ukraine ist der Holodomor ein zutiefst traumatisches, grausames und leidvolles Kapitel der eigenen Geschichte. Der Holodomor prägt das nationale Bewusstsein dieses Landes.

Das Wissen um diese leidvolle Geschichte war ausserhalb der Ukraine lange Zeit kaum präsent, dies obwohl bereits damals einzelne Journalisten – trotz sowjetischer Zensur – aus der Ukraine Augenzeugenberichte machen konnten. So fand am 29. März 1933 in Berlin eine Medienkonferenz mit mehreren Journalisten der Weltpresse statt, wo über die Hungerkatastrophe berichtet wurde.[i]

Thema in der Schweizer Presse im Jahr 1933

Auch in der Schweizer Presse war von der Hungerkatastrophe in der Ukraine zu lesen, so in der bürgerlichen Neuen Züricher Zeitung, NZZ vom 20.12.1933[ii] (Mittagsausgabe: «Die Hungerkatastrophe in Russland»), wo ein Bericht des Generalsekretärs des in Genf gegründeten Europäischen Nationalitätenkongresses, Edwald Ammende stand und von einer Hungerkatastrophe sprach: «Die Katastrophe in den südlichen Gebieten der Sowjetunion gehört zu den furchtbarsten, die unseren Erdteil je betroffen haben. Millionen sind an Hunger und seinen Begleiterscheinungen zugrunde gegangen, ohne dass eine Hilfe zuteil geworden wäre». Die Rede ist als Folge einer «Kollektivierungs Kampagne» von einer «Tragödie» und «Menschenopfern» in den reichsten Getreidegebieten der Ukraine und des Nordkaukasus.

Bereits zwei Monate früher war in der Sozialistischen Presse davon zu lesen, so in der französischsprachigen Zeitung «La Sentinelle» aus La Chaux-de-Fonds[2] am 13. Oktober 1933 wo unter dem Titel: «Tempora mutantur» über die Ukraine und den Nordkaukasus stand: «souffre atrocement de la famine. Dans les villes, les rues sont pleines de gens affamés, amaigris jusqu’aux os, avec des visages gonflés».

Was die offizielle, diplomatische Schweiz damals wusste, ist mir unbekannt. Die 1918 in Bern eröffnete Ukrainische Botschaft war 1926 geschlossen worden, woran heute noch ein Schild an der heutigen Ukrainischen Botschaft im Kirchenfeld erinnert. Damals war es in der Presse ein Thema, dass es damals im Gegensatz zu früheren Hungersnöten keine internationale, humanitäre Hilfe gab.

Vor dem Hintergrund des aktuellen völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine 2022 und damit verbunden des Angriffs auf europäische Werte, soll die Anerkennung des Holodomor sowohl erinnern, gedenken und auch mahnen.

Dies fordert ein Vorstoss im nationalen Parlament im Nationalrat.[iii] Der Bundesrat anerkennt in seiner Antwort das Leid und die Opfer auf dem Territorium der heutigen Ukraine infolge des Holodomors 1932/33 und hat am letzten 26. November 2022, dem Gedenktag des Holodomor, öffentlich auf den sozialen Medien auf den Holodomor als absichtlich herbeigeführte Hungerkatastrophe hingewiesen. Der Bundesrat begrüsst in seiner Antwort eine verantwortungsvolle Debatte über den Holodomor, um das Wissen um die Ursachen, Folgen sowie Opfer und Täterschaft des Holodomors zu fördern, was hoffentlich auch vertieft stattfinden wird, allenfalls auch über das Wissen der offiziellen Schweiz damals.

Die politische Anerkennung durch die Schweiz steht noch aus

Es geht mit dem Vorstoss im Nationalrat um eine politische Anerkennung und explizit auch ein Gedenken und Mahnen. Stand heute wurde der Vorstoss noch behandelt. Wie auch bereits bei der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern im Jahr 1915, welche der Nationalrat am 16.12.2003 mit dem Postulat des Genfer Mitte-Politikers Jean-Claude Vaudroz[iv] mit 107 zu 67 Stimmen bei 11 Enthaltungen machte, würde der Bundesrat die politische Anerkennung des Völkermordes über die üblichen Kanäle an die Nachfolgeregierung in Russland weiterleiten.[3]

Viele andere Länder aus Europa, Nord- und Südamerika und auch die europäische Union[4] haben diesen Schritt der Anerkennung des Völkermordes bereits gemacht, so der Deutsche Bundestag am 30. November 2022, das EU-Parlament am 12. Dezember 2022, aber inzwischen sind auch Grossbritannien, Belgien, Frankreich und weitere Staaten gefolgt. Nun wäre es an der Zeit, dass sich auch die politische Schweiz in dieser Frage äussert.

Natalie Imboden, 24. November 2023

(Artikel mit Zeitungsausschnitten als PDF)

 

Literatur / Materialien

Anne Applebaum: Stalins Krieg gegen die Ukraine, 2019.

Raphael Lemkin: Soviet Genocide in Ukraine. 2020. National Museum of the Holodomor-Genocide. Holodomor Research Institute.

„Nourrir le monde“ (1/5) – La grande famine en Ukraine Histoire vivante. Podcast, RTS, Histoire Vivante, Episode du 27 mars 2023
https://www.rts.ch/audio-podcast/2023/audio/nourrir-le-monde-1-5-la-grande-famine-en-ukraine-26112141.html

„Moissons sanglantes – 1933, la famine en Ukraine“, documentaire réalisé par Guillaume Ribot (France, 2022). Dimanche 2 avril 2023 à 20h55 sur RTS

Nicolas Werth: La Grande Famine (1932-1933), in: Amacher Korine, Aunoble Éric, Portnov Andrii : Histoire partagée, mémoires divisées. Ukraine, Russie, Pologne, 2020.

Tanja Penter:  «Mit entsichertem Gewehr oder Revolver wurde auch das letzte Korn geraubt» – die Hungerkatastrophe der 1930er Jahre spaltet Ukrainer und Russen, in: Neue Zürcher Zeitung, NZZ, 08.04.2022
https://www.nzz.ch/feuilleton/holodomor-was-die-hungersnot-ukrainern-und-russen-bedeutet-ld.1678340

Paul Scheffer:  Augenzeuge im Staate Lenins : ein Korrespondent berichtet aus Moskau, 1921-1930, (Autor_in); Scheffer, Paul 1883-1963, München : R. Piper, 1972

La Sentinelle, La Chaux-de-Fonds,13. Oktober 1933, «Tempora mutantur»

Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe, 20. Dezember 1933 «Die Hungerkatastrophe in Russland»

Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe, 28. September 1934, «Die russische Hungerkatastrophe»

 

[1] Erinnern – gedenken – mahnen. Anerkennung des Holodomors in der Ukraine als Völkermord. (22.4326 POSTULAT)

[2] Danke dem Historiker Adrian Zimmermann für den Hinweis.

[3] Gemäss Protokoll äussert sich in solchen Fragen nicht der Bundesrat, sondern es ist ein Entscheid des Nationalrates.

[4] ENTSCHLIESSUNGSANTRAG zu dem Thema „90 Jahre nach dem Holodomor: Anerkennung der Massentötung durch Hunger als Völkermord“, 12.12.2022 

 https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2022-0561_DE.html

[i] Paul Scheffer war 1929 der erste westliche Journalist, der über die Hungersnöte in der Folge der Zwangskollektivierungen berichtete und am 29. März 1933 in Berlin eine Medienkonferenz mit mehreren Journalisten organisierte, an der neben der Weltpresse teilnahm und in der Folge berichtete.
: https://de.wikipedia.org/wiki/Ewald_Ammende /
https://de.wikipedia.org/wiki/Gareth_Jones_(Journalist)#cite_note-9
Bei den Zeitungen der Weltpresse wird auch die Zeitung «La Liberté» erwähnt. Es handelt sich dabei um die in Paris erschiene und 1940 eingestellte Zeitung und nicht um die gleichnamige Schweizer Zeitung aus Freiburg. https://www.garethjones.org/soviet_articles/misere_
en_russie_sovietique.htm

La Misère en Russie Soviétique. Le témoignage d’un voyageur anglais, in : La Liberté , 23 Juillet 1933 (Paris) 
Gareth Jones aus Wales (UK) arbeitete als Politikberater für den ehemaligen Premierminister David Lloyd George. Im Sommer 1931 besuchte er mit Henry John Heinz II. die Sowjetunion. In der Ukraine und in Kasachstan wurde Jones gemeinsam mit seinem Landsmann Malcolm Muggeridge Zeuge des einsetzenden Holodomor. Für die New York Times verfasste er umgehend einen Bericht, in dem er explizit Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft als Ursache der Hungerkatastrophe benannte.[3] 1932/33 lieferte er aus der Sowjetunion regelmäßig Reportagen an amerikanische, britische und deutsche Zeitungen. Quelle: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gareth_Jones_(Journalist)#cite_note-3 
https://www.garethjones.org/

 [iii] 22.4326 POSTULAT Erinnern – gedenken – mahnen. Anerkennung des Holodomors in der Ukraine als Völkermord.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20224326

[iv] 02.3069 POSTULAT Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern im Jahr 1915
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20023069