Heute hat der Europäische Gerichthof für Menschenrechte in Strassburg gleich zwei Klimaklagen beraten. Einerseits die Klage der KlimaSeniorinnen aus der Schweiz gegen den Staat Schweiz, andererseits über die Klage eines Bürgermeisters einer französischen Gemeinde gegen den Staat Frankreich. Bei beiden Fällen lautet die Anklage, dass der Staat zu wenig unternimmt um den Klimawandel zu stoppen und die Bevölkerung vor dieser Gefahr an Leib und Leben zu schützen. Aktiv verfolgen konnte ich vor Ort heute die Klage der KlimaSeniorinnen.

Die Beratungen der involvierten Parteien inklusive zusätzlicher Fragen vor Ort und auch die Hintergrundunterlagen sind sehr umfangreich und ich masse mir als Nichtjuristin kein juristisches Urteil an. Ich nehme folgende Eindrücke aus Strassburg heim:

  1. Beindruckt: Ich bin wirklich beeindruckt. Die KlimaSeniorinnen haben mit ihrer Klage, die sie vor Jahren lanciert haben, eine unglaublich breite und wichtige Debatte erreicht. Sowohl in der juristischen, wie auch in der gesellschaftlichen Wirkung. Mutige und engagierte Frauen mit viel Lebenserfahrung und teilweise auch politischer Erfahrung (u.a. zwei ehemalige Nationalrätinnen der GRÜNEN Anne Mahrer und Pia Holenstein) stellen die zentrale Frage, ob die Schweiz genügend wirksamen Klimaschutz macht um die Bevölkerung in der Schweiz vor den Auswirkungen der Klimaerwärmung zu schützen, da die Klimafolgen ältere Frauen nachweislich besonders triffen. Eine an der Universität Bern erarbeitete Studie weist detailliert nach, wie Hitze in der Schweiz in den vergangenen 50 Jahren zunehmend zu Übersterblichkeit führte. Die Kombination von Klimawandel und Bevölkerungsalterung, so das Fazit, wird zum Problem. (siehe auch Bericht SRF: Übersterblichkeit durch Hitze). Diese langjährige Arbeit des Vereins KlimaSeniorinnen ist nur möglich dank der Unterstützung von NGOs (u.a. Greenpeace) und hochkompetenter Anwältinnen und Anwälte.
  2. Schockiert: Ich bin schockiert über die vorgetragenen Argumente der offiziellen Schweiz, die sich sehr defensiv verteidigt und tatsächlich behauptet, dass die Schweiz ja nur wenig Einfluss in der Klimapolitik habe und bereits vieles tue. Die Rhetorik der offiziellen Schweiz erinnert mich fatal an SVP-Reden (wir sind ja nur ein kleines Land; die grösseren Länder müssen handeln und überhaupt sei nicht erwiesen, dass die Gesundheit älterer Frauen von Hitzewellen besonders betroffen ist). Dies obwohl gerade dazu klare Statistiken bestehen. Auch die Aussage der Schweizer Vertretung, dass die Frage der Klimapolitik eine innen-politische sei und der Gerichtshof sich doch lieber dort nicht einmischen solle, erinnert an die üble Diskussion von «Fremde Richter». Dabei ist die Schweiz ja im Gericht vertreten, aktuell mit einem Richter.
  3. „Switzerland failed“ – „faire share“: Das Plädoyer der Anwältin der KlimaSeniorinnen Jessica Simor war sehr überzeugend. Sie hat aufgezeigt, dass die Schweizer Klimapolitik weit davon entfernt ist, ihren Beitrag zur Erreichung der globalen Klimaziele, wie sie im Klimaabkommen von Paris vereinbart wurden, zu erreichen. Es geht nämlich um die sogenannte «fair share» (einen fairen Anteil, den die Schweiz beiträgt). Das Anwaltsteam der KlimaSeniorinnen hat klar aufgezeigt, dass die Schweiz nicht genügend macht um ihren Beitrag zur Erreichung der globalen Klimaziele zu leisten.

Das Gericht wird jetzt die Argumente prüfen und in den nächsten Monaten die Urteile fällen. Was aber klar ist, die Beurteilung der Klimaklagen ist nicht nur eine juristische, sondern eine eminent politische Frage. Dies hat den auch die Vertreterin der National Human Rights Institution (ENNHRI) klar gesagt, dass das Gericht hier einen zukunftsfähigen Entscheid fällen müsse. Jedenfalls bin ich nach diesem bewegenden Tag überzeugter denn je, dass wir mit unserem Engagement für einen ambitionierten und engagierten Klimaschutz auf dem richtigen Weg sind. Oder wie es an der Abschlussveranstaltung mit den KlimaSeniorinnen formuliert wurde: «It’s time for climate justice!».

Strassburg, 29.03.2023

Wer die Beratungen zur Klimaklage der KlimaSeniorinnen im Detail verfolgen will, kann dies hier tun: https://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=hearings&w=5360020_29032023&language=en

 

The European Court of Human Rights is holding a Grand Chamber1 hearing today Wednesday 29 March 2023 at 9.15 a.m. in the case of Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland (application no. 53600/20). The case concerns a complaint by a Swiss association and its members, a group of older women concerned about the consequences of global warming on their living conditions and health.

The European Court of Human Rights is holding a Grand Chamber1 hearing today Wednesday 29 March 2023 at 14.15 p.m. in the case of Carême v. France (application no. 7189/21). The case concerns a complaint by an inhabitant and former mayor of the municipality of Grande-Synthe, who submits that France has taken insufficient steps to prevent climate change and that this failure entails a violation of the right to life and the right to respect for private and family life.

Die Wissenschaft ist klar: Hier der neueste und 6. IPCC-Bericht. Seit der Ratifikation des Pariser Klimaabkommens 2017 hat die Schweiz zu wenig Massnahmen für deren Umsetzung beschlossen. Die Schweiz stehe unter Zugzwang, die Ziele des Klimaabkommens noch zu erfüllen. Die nächste Chance, dass künftig konkrete Massnahmen ergriffen würden, bietet sich bei der Volkabstimmung am 18. Juni über den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative.