Vor zwei Wochen habe ich Anna getroffen. Anna ist eine von 18 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern, die vor dem furchtbaren Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine ins Ausland flüchten mussten. Heute lebt Anna in der Schweiz. Anna hat mir von ihrer Grossmutter erzählt. Ihre Grossmutter hat als Kind vor 90 Jahren (1932/1933) in der Ukraine den Hungertod von rund vier Millionen Toten erlebt und überlebt. Ihre Grossmutter wollte, dass die Erinnerung an den millionenfachen Hungermord nicht vergessen geht – in der Hoffnung, dass sich dieser Horror nie mehr wiederholt.

Der massenhafte Hungermord, genannt Holodomor (vom ukrainischen Wort «holod» Hunger und «moryty» umbringen) war nicht die Folge von Missernten, sondern von der Führung der damaligen Sowjetunion unter Josef Stalin angeordnet worden und hatte auch die politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins zum Ziel.

Was hat das mit dem aktuellen völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine zu tun? Für die Ukraine ist der Holodomor ein zutiefst traumatisches Kapitel der eigenen Geschichte. Bei uns ist dieser Teil der ukrainischen Geschichte weitgehend unbekannt. Heute ist klar: Der Holodomor stellt ein Verbrechen gegen die Menschheit dar und muss als Völkermord eingeschätzt werden. Die Forderung diesen Völkermord international anzuerkennen und darüber zu reden, steht auch in der Schweiz auf der politischen Agenda.

Letzte Woche traf ich Anna erneut an einer Foto-Ausstellung: Schreckliche Bilder aus dem Krieg in der Ukraine – kaum zu ertragen. Dabei eine Fotografie eines renommierten Fotografen (Abd Rodrigo). Sie zeigt den sechsjährigen Jungen Vlad Tanyuk am Rand des behelfsmässigen Grabes seiner Mutter. Ira Tanyuk ist am Montag 4. April 2022 in Butcha gestorben und zwar aufgrund von Unterernährung.

Butcha, Mariupol, Bachmut. Diese Städte sind zum Mahnmal geworden für die Grausamkeit des Krieges gegen die Zivilbevölkerung, die massenhaft vergewaltigt, ermordet wird oder verhungert.

Der völkerrechtswidrige Angriff von Russland auf die Ukraine erschüttert uns alle, die wir für das Völkerrecht, Demokratie und Selbstbestimmung eines souveränen Landes einstehen. Ich habe allergrösste Achtung vor den Ukrainerinnen und Ukrainern, die entschlossen nicht nur ihr Land, sondern auch Demokratie und Menschenrechte verteidigen.

Wir hier in der Schweiz sind gefordert, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, damit das Völkerrecht und die Demokratie gewinnen.

Die Schweiz muss die humanitäre Unterstützung für die Ukraine massiv verstärken, und zwar verzehnfachen.

Wir können als Gastgeberinnen Ukrainer*innen und ihre Familien bei uns engagierter unterstützen, so beim Erlernen der Sprache oder beim Zugang zum Arbeitsmarkt.

Die offizielle Schweiz muss sich die kritische Frage stellen, warum der Rohstoffhandelsplatz und die Abhängigkeit von Öl und Gas den Krieg Putins finanziert. 80 Prozent des Rohstoffhandels von Russland laufen über die Schweiz. Drei Viertel des russischen Kohlehandels geht über die Schweiz. Noch zu Kriegsbeginn wurden zwischen 50 und 60% des russischen Erdöls in der Schweiz gehandelt.[1] Wir dürfen nicht länger die Rohstoffbank für Putins Krieg sein. Die GRÜNEN verlangen eine schärfere Aufsicht für den Rohstoffhandel. Der Rohstoffhandelsplatz Schweiz profitiert massiv vom Krieg und macht historische Rekordgewinne. Diese horrenden Gewinne müssen mit einer Kriegsgewinnsteuer besteuert werden.

Wenn wir aus der Geschichte gelernt haben, dann braucht es die Entschlossenheit und das Zusammenstehen der Staatengemeinschaft damit die Menschenrechte und das Völkerrecht gewinnen! Um das Völkerrecht zu verteidigen, setzt die Staatengemeinschaft alle Mittel ein, um die Ukraine zu unterstützen: humanitäre, diplomatische und auch militärische Unterstützung.
Aus einer menschlichen Perspektive gibt es angesichts dieses Angriffskrieges keine Neutralität. Nutzen wir hier in der Schweiz alle uns zur Verfügung stehenden Mittel damit die Menschenrechte und das Völkerrecht gewinnen!
„Slava Ukraini“ (Слава Україні! – Glory to Ukraine). We stand with Ukraine!

Natalie Imboden, Nationalrätin GRÜNE, Bern
Historikerin, Mitglied Staatspolitische Kommission

Rede gehalten an der Ukraine-Kundgebung 4. März 2023 (Bern): We stand with Ukraine

[1] Intransparenz und Inkonsequenz: Russlands Krieg enttarnt das «Geschäftsmodell Schweiz»