Wir müssen reden! Die Schweiz braucht eine zukunftsfähige Verfassung
Eine Motion im Nationalrat soll den Anstoss geben für eine Totalrevision der Bundesverfassung und zwar über den Weg der Einsetzung einer Verfassungskommission, hier Zukunftsrat genannt. Darin soll die ganze Bevölkerung und insbesondere auch die Jugend einbezogen werden. Der Zukunftsrat soll sich mit der Frage beschäftigten, wie eine Überarbeitung der aktuellen Verfassung inhaltlich aussehen könnte und einen materiellen Entwurf zuhanden der Bundesversammlung erarbeiten.
Warum eine Totalrevision werden Sie sich fragen? Das aktuelle Jubiläum von 175 Jahre Bundesverfassung ist der Anstoss dazu in die Zukunft zu schauen. Wie soll die Schweiz der Zukunft gestaltet werden? Meine Vision: im Jahr 2048 – zwei Jahre bevor wir die Klimaziele von Paris hoffentlich erreicht haben – genau zum runden 200. Geburtstag der modernen Schweiz hat die Schweiz eine neue Verfassung.
Wir sind stolz darauf, dank der damals modernen Verfassung von 1848 die älteste Demokratie Europas zu sein. Die Verfassungsinitiative wurde etwas später 1891 eingeführt (1874 bereits das fakultative Gesetzesreferendum). Seit 1891 kamen 348 Volksinitiativen zustande, 228 gelangten zur Volksabstimmung (Stand Januar 2023). 25 Mal wurde in der Folge aufgrund von Volksinitiativen die Verfassung geändert: Vom Absinthverbot über die Einführung der Proporzwahl des Bundesrates in den ersten Jahren bis jüngst zur Pflege-Initiative und dem Schutz der Jugend vor Tabakwerbung. Die Verfassungsinitiative ermöglicht, dass die Verfassung punktuell geändert wird. Hingegen fehlt eine übergeordnete Betrachtung und auch eine breite Debatte, mit welchen politischen Instrumenten und Institutionen und welchen politischen Aufgaben unser Staatswesen auch in Zukunft funktionieren soll. Was in der Folge von 1848 die Gründerväter mit viel Weitsicht und auch Mut geschaffen haben, soll auch die Generation des 21. Jahrhunderts in einem Zukunftsrat diskutieren können. Nachdem die letzte Totalrevision der Verfassung im Jahr 1999 weitgehend eine Nachführung des ausgehenden 20. Jahrhundert war, soll heute der Anstoss für eine Revision für das 21. Jahrhundert gegeben werden. So steht in Art. 192 (Bundesverfassung) unserer Bundesverfassung: „Die Bundesverfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden.“ Nach Art. 193 der Bundesverfassung gilt: Eine Totalrevision der Bundesverfassung kann vom Volk oder von einem der beiden Räte vorgeschlagen werden.
Die Schweiz hat heute ein oder gar mehrere Demokratieprobleme. Einerseits ist in der Schweiz ein grosser und auch wachsender Teil der Bevölkerung von den politischen Rechten ausgeschlossen. Mehr als ein Viertel der Wohnbevölkerung hat keinen Schweizer Pass und kann damit nicht politisch mitbestimmen. Das ist zunehmend ein Problem, wenn wir in einer direkten Demokratie nur noch eine «Dreivierteldemokratie» haben. Dies will aktuelle Demokratie-Volksinitiative ändern.
Zudem ist die die Mehrheit der an Abstimmungen teilnehmenden Personen in der Schweiz älter als 55 Jahre. Wir wissen, dass die älteren Stimmberechtigten fleissiger abstimmen gehen als jüngere, so liegt das Medianalter des Stimmkörpers mit derzeit 55 Jahren rund fünf Jahre über demjenigen des Elektorats. Dieser Trend der Alterung von Stimmberechtigten und Stimmenden wird sich zudem aller Voraussicht nach fortsetzen. Das Medianalter der Stimmenden dürfte im Jahr 2035 auf über 60 Jahre klettern. Wenn wir die beiden Trends (Ausschluss eines Viertels und stärkere Beteiligung der älteren Generationen) kombinieren, könnte im Jahr 2048 die Demokratie starke Alterserscheinungen und Ausschlusserscheinungen zeigen. Und seien wir ehrlich, die häufig tiefe Stimmbeteiligung wirft viele kritische Fragen auf, die wir diskutieren sollten.
Darum soll das 175 Jahre Jubiläum der Schweizer Bundesverfassung Anlass sein über die Gestaltung der politischen Rechte in den nächsten Jahrzehnten zu debattieren und Vorschläge für eine Revision der Verfassung zu formulieren, die im politischen Prozess diskutiert werden. Für diese Aufgabe soll ein Zukunftsrat gewählt und ein dazu zielführender Prozess entwickelt werden.
In den letzten 30 Jahren hat sich die Welt geopolitisch, ökologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich stark geändert und verstärkt globalisiert. Zudem stellt besonders die globale Klimakrise die Schweiz auf allen Staatsebenen vor grosse Herausforderungen. Themen wie die Bewältigung der Pandemie oder die globale Klimakrise stellen auch das Funktionieren des föderalistischen Bundesstaates auf den Prüfstand.
Nehmen wir die uns die Innovationskraft der Gründerväter der heutigen Verfassung (die Frauen hatten ja bekanntlich bis 1971 kein Stimmrecht) zum Vorbild und nehmen wir mit einem Zukunftsrat unter Einschluss der Jungen Generationen die Verfassungsrevision der Zukunft in die Hand.