Einige Gedanken nach meinem heutigen Besuch im «Rückreisezentrum Aarwangen», welches von der Firma ORS betrieben wird, die mich für einen Besuch eingeladen hat (Brief von ORS). Ich bedanke mich an dieser Stelle für den interessanten Einblick vor Ort, den ich damit bekommen habe, auch wenn mir bewusst ist, dass dieser Einblick letztlich sehr punktuell ist.

Aufgrund der aktuellen Gesetzgebung leben mehrere hundert Menschen im Kanton Bern nach einem negativen Asylentscheid im System der Nothilfe, teilweise in einem der kantonalen Rückreisezentren oder auch in Privathaushalten. Viele haben Probleme für die Ausreise die notwendigen Papiere zu beschaffen oder haben schlicht Angst in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Damit bleiben sie teils über Jahre in der prekären Nothilfe mit einer minimalen Unterstützung von 8 Franken Nothilfe-Geld pro Tag für alle Kosten des Lebens (ab November Fr. 10/Tag). Zur Nothilfe gehören das Arbeits- und Ausbildungsverbot und das Fehlen jeglicher Integrationsmassnahmen. Dies führt zu Perspektivenlosigkeit und auch gesundheitlichen Problemen und Gefährdungen.

Im «Rückreisezentrum Aarwangen» leben aktuell etwas über 70 Menschen, viele davon Familien mit Kindern, die in die lokale Schule gehen. Hier stellvertretend zwei Schicksale von denen ich heute erfahren habe. So ein Mann aus Georgien, der seit vielen Jahren in der Schweiz lebt. Er hat psychische Probleme, es gibt gar eine suizidale Gefährdung. Seine Ehefrau war vor einigen Monaten in ihr Herkunftsland abgeschoben worden. Sie hat dort inzwischen eine Krebsdiagnose erhalten und er ist nach der erzwungenen Trennung nun mit seinen Sorgen noch isolierter.

Oder eine Familie aus Sri Lanka, die seit rund 15 Jahren (!) in Asylunterkünften lebt und deren Kinder hier in der Schweiz geboren und in verschiedenen Asylunterkünften aufgewachsen sind. Die älteste Tochter wird nach der 9. Klasse (Ende der obligatorischen Schule) «ausgeschult» und steht als junge Frau sprichwörtlich vor dem Nichts, da weder ein 10. Schuljahr noch eine Ausbildung möglich sind.

Diese und andere Schicksale gehen mir unter die Haut und zeigen, dass das System der Nothilfe häufig keine temporäre Situation ist, sondern jahrelang andauert.

​Was ich vom heutigen Tag mitnehme: Ich unterscheide zwischen der Arbeit des Betreuungs-Teams vor Ort, welches ich heute gesehen habe und unter den vorgegebenen gesetzlichen Umständen eine wichtige Arbeit leistet und den aus meiner Sicht politisch und rechtlich unmenschlichen Rahmenbedingungen von Bund und Kanton. Es ist mehr als problematisch, wenn die Rückkehr nicht möglich ist und die Nothilfe teils über Jahre andauert. Langzeitnothilfe ist eine unmenschliche Sackgasse!  

Was mit aller Deutlichkeit sichtbar ist, wie wichtig und notwendig die Unterstützung durch Lebensmittelspenden und die Unterstützung von Freiwilligen aus Kirche und Zivilgesellschaft ist. Als die wöchentliche Lebensmittelspende, die jeweils am Dienstag kommt, in einer Woche weniger umfangreich als üblich ausfiel, war die Sorge der Menschen gross, wie die geringeren Lebensmittel gerecht verteilt werden sollen. Denn die Menschen sind auf diese Zusatzangebote angewiesen. Ohne die Unterstützung der Zivilgesellschaft wäre ihre Situation noch hoffnungsloser.

Der Tag hat mir eindrücklich bestätigt, dass die Langzeitnothilfe eine unmenschliche Sackgasse ist und ich bin froh um alle Menschen, die sich vor oder hinter den Kulissen für wichtige Verbesserungen einsetzen!
Und Ja, ich bleibe bei meiner Meinung, dass die menschenwürdige Unterbringung von Menschen im Asylverfahren (auch in der Nothilfe) als öffentliche Aufgabe von der öffentlichen Hand oder von Hilfswerken gemacht werden soll und nicht von gewinnorientierten Firmen.

Natalie Imboden, 4.10.2022

Weitere Informationen: «Aktionsgruppe Nothilfe – Sackgasse Langzeitnothilfe»
https://www.ag-nothilfe.ch/was-ist-nothilfe